Das erste hohe Bergabenteuer dieses Jahres liegt hinter uns. Mit
Schneeschuhen ging es an einem Wochenende hoch hinauf auf den dritthöchsten
Berg Tirols, dem Großvenediger.
Am Freitag klingelt um 4.30 Uhr mein Wecker. Bereits am Vorabend meckere ich über die Uhrzeit. Ich verstehe nicht, warum wir so früh los fahren müssen, wenn der Aufstieg zur Neuen Prager Hütte doch nur 4,5 Stunden dauert. Jacqueline weiß die Antwort. Die Sonne macht den Schnee weich und sulzig und laut Wettervorhersage soll sie für uns das gesamte Wochenende scheinen. Weicher Schnee erschwert den Aufstieg und fordert mehr Kraft.
Pünktlich um 6.45 Uhr stehe ich abholbereit am Rosenheimer Platz. Nach dem
alles im Auto verstaut ist, geht’s los in Richtung Österreich. Bald zeigt sich
ein weiterer Vorteil vom frühen Wurm: Wir haben keinen Verkehr. In nicht einmal
drei Stunden erreichen wir ohne Stau den Wanderparkplatz am Matreier Tauernhaus
auf 1.500 m. Bis wir alles am Rucksack verstaut, uns wettergerecht angezogen
und das LVS-Gerät am Körper tragen, vergeht noch einmal eine halbe Stunde. Kurz
nach zehn starten wir in Richtung Bergabenteuer.
Zunächst gilt es Strecke zu machen. Acht Kilometer sind zu wandern, bis es
endlich bergauf geht und damit der Kampf mit dem Schnee für uns beginnen sollte.
Dank strahlendem Sonnenschein ist der Schnee unter 2.200 Höhenmeter so sulzig
und weich, dass wir bei jedem zweiten Schritt einbrechen und uns wieder
rauskämpfen müssen. Es fallen viele schlimme Wörter, die ich hier lieber nicht
wiederhole. Ständig werden wir von Skitourengehern überholt, die es mit ihrer
großen Auflagefläche natürlich wesentlich leichter haben. Ängstlich stützte ich
bei einer Hangquerung auf meinen Trekkingstock in Richtung Hang, denn mir graut
davor, dass ich runterrutschen könnte und bei dem Matschschnee alles wieder aufsteigen
müsste. Uns kommen Zweifel, ob die Idee mit Schneeschuhen den Großvenediger zu besteigen,
wirklich eine gute ist. Wir kommen nur sehr langsam voran und können daher kaum
Pausen machen, dabei schreien unsere Beine förmlich danach. Ständig zerstören
wir die Loipen der Skitourengeher und erschweren den Nachzüglern ebenfalls den
Aufstieg. Aber uns bleibt nichts anderes übrig. Denn selbst nur leicht
verdichteter Schnee hilft uns, um nicht bei jedem Schritt tief einzubrechen.
Meine Beine fühlen sich langsam an wie Pudding und die Neue Prager Hütte
scheint sich immer weiter von uns zu entfernen. „Wanderhütte“ nennen wir dieses
Phänomen. Doch plötzlich wird der Schnee harschig und vereist. Die letzten zwei
Stunden kommen wir deutlich schneller voran. Endlich geschafft: „Sie erreichten
die Neue Prager Hütte auf 2.796 m mit Müh und Not, ihre Beine fühlten sich an
wie tot.“ Statt der 4,5 Stunden haben wir für den Aufstieg sechs gebraucht,
für 1.300 Höhenmeter und 20 km. Denn im Winter ist alles anders. Auch der Parkplatz für diese Hochtour. Der liegt dann nämlich acht Kilometer weiter in Richtung Tal. Sowas sollte man bei der Tourenplanung durchaus beachten.
Ein Vorteil hat so ein langer Aufstieg allerdings, man muss nicht mehr
lange warten bis es Abendessen gibt. Nach zwei Tellern Kürbiscremesuppe, einer
großen Portion Nudeln mit Tomatensauce und Mohnkuchen als Nachtisch bin ich
wieder halbwegs hergestellt. Bevor es in den Hüttenschlafsack geht, üben wir
noch einmal theoretisch Gletscherspaltenbergung und die wichtigsten Knoten. Der
Hüttenwirt erklärt uns auf der Karte den Weg zum Gipfel, denn als ehemaliger
Bergführer kennt er die beste und spaltenfreieste Route hinauf, die auch für
Schneeschuhe gut geeignet ist. Auf der Hütte sind wir mit unseren Schneeschuhen
eine Rarität. Alle anderen Gruppen wollen am nächsten Tag den Großvenediger mit
Skiern bezwingen. Wir bekommen etliche bewundernde Worte für unseren Aufstieg
zur Hütte und für die Idee mit Schneeschuhen den dritthöchsten Berg Tirols zu
besteigen. Mir geben die netten Worte jedoch ein wenig das Gefühl, dass wir ein
bisschen bekloppt sind. Aber wenn man nicht ein bisschen bekloppt ist, macht
man auch keine Hochtouren.
Frühstück soll es am nächsten Tag erst
ab sieben geben. Wären wir mit Skiern unterwegs wäre ein Aufbruch um acht in
Ordnung, denn der Aufstieg dauert dann nur 2,5 Stunden. Wir haben jedoch Angst,
dass wir bei einem späteren Aufbruch wieder in weichen Schnee geraten, der uns
den Weg noch beschwerlicher macht. Außerdem gelten fürs Schneeschuhgehen die
gleichen Zeiten wie für die Sommerhochtour, 3,5 h im Aufstieg und ca. 2 h für
den Abstieg zurück zur Hütte. Netterweise wird unser Frühstück bereits am Abend
hergerichtet, damit dem frühen Wurm nichts im Wege steht.
Ohne Waschen geht es ins Bett, denn
das Wasser ist im Winter knapp. So gibt es für alle nur eine Toilette und Zähne
geputzt wird mit aufgekochtem Schmelzwasser. Wir duschen alle mit Deo und legen
uns nieder. Die erste Nacht auf über 2.700 m ist eigentlich eher Augenpflege
als schlafen. So bin ich auch nicht traurig, dass das Hin- und Hergewälze um 5.00
Uhr ein Ende hat. Pünktlich halb sechs sitzen wir beim Frühstück. Ich bin ein
bisschen enttäuscht, denn es sind gerade einmal drei Brote für jeden da. Diese
sind auch nach 20 Minuten inhaliert. Der frühe Wurm hat jedoch einen großen
Vorteil: man hat die einzige Toilette für sich allein.
6.15 Uhr zeigt uns der Hüttenwirt
draußen noch einmal die Route direkt am Berg und dann geht’s los. Es ist
wunderschön draußen, denn die Sonne geht gerade auf. Mit jedem Schritt merke
ich den Aufstieg des vorherigen Tages. Meine Oberschenkel brennen entsetzlich
und mein Körper fühlt sich an wie Blei. Ich komme nicht gut in Tritt. Hinzu
kommt, dass ich merke, dass die Höhenluft deutlich dünner ist. Ich schnaufe und
schwitze und muss ständig kurz stehen bleiben. Nach 1,5 Stunden erreichen wir
den Gletscher und wir seilen uns an. Jacqueline geht vorne, sie ist damit
einverstanden, dass sie ggf. „Gletscherfutter“ wird, denn in der Regel reißt es
den ersten in die Gletscherspalte. Scheinbar haben wir bei der theoretischen
Gletscherspaltenbergung einen soliden Eindruck gemacht. Der Schnee ist fest und
so schreiten wir in stetigem Schritt dem Gipfel entgegen. Die ersten
Skitourengeher überholen uns. Ich bin ein bisschen neidisch, mit welcher
Geschwindigkeit sie aufsteigen. Und dann passiert‘s: Ich bekomme Hunger. Die
drei Brote waren zu wenig. Für gerade einmal zwei Stunden haben sie Feuer
gegeben. Inzwischen haben Kälte und Wind deutlich zugenommen, trotz Sonne muss
ich in die dicke Jacke schlüpfen. Die kurze Anziehpause reicht aus, um meine
Finger taub vor Kälte werden zu lassen. Schnell geht es weiter. Ich schaue den
Sattel hinauf und denke mir, den schaffe ich noch und danach frage ich mal nach
einer Pause. Leider zieht dich der Sattel mit jedem Schritt weiter nach oben.
Ich versuche meinen Hunger zu ignorieren und denke nur noch: Schritt links, Schritt
rechts und atmen. Den Blick auf den Boden gesenkt versuche ich den immer weiter
werdenden Aufstieg zu ignorieren und hoffe, dass wir irgendwann einfach oben
sind. Der Wind zehrt an meinen Kräften und trägt meinen Rotz davon. Plötzlich
bleibe ich einfach stehen. Ich kann nicht mehr. Inzwischen ist mir schlecht vor
Hunger und ich habe das Gefühl, dass meine Beine gleich einknicken. Mir ist zum
Heulen und ich bitte inzwischen recht weinerlich nach einer Pause. Natürlich
können wir dort keine Pause machen. Viel zu stark sind wir dem Wind ausgesetzt.
Meinem Verstand leuchtet das natürlich ein, aber meine Beine sehen das anders.
Dennoch schaffe ich es in Minischritten hoch auf den Sattel. Endlich Pause. In
einer kleinen Senke sind wir im Sitzen weitestgehend vor dem eisigen Wind
geschützt. Nach dem ersten Müsliriegel geht’s mir gleich besser und ich kann
zum ersten Mal die Landschaft genießen. Alles ist in weiß gehüllt. Der Wind hat
dem Schnee schöne Wellenformen und sogar Blumen verpasst. Der Himmel ist strahlend
blau und wir haben eine uneingeschränkte Sicht. Sogar den Großglockner können
wir sehen. Noch einen Riegel und ein halbe Tüte Nüsse später brechen wir nach
10 Minuten wieder auf. Endlich finde ich meinen Tritt und ich komme mühelos
voran. Die tolle Landschaft und den Gipfel vor Augen vergeht die nächste Stunde
wie im Flug. Schnell kommen wir oben an. Inzwischen sind wir von etlichen
Skitourengehern überholt worden und es ist ordentlich Trubel am Gipfel.
Nur
noch ein schmaler Grat trennt uns vom Gipfelkreuz. Während alle anderen ihre
Skier ausziehen müssen, können wir direkt mit den Schneeschuhen aufsteigen.
Endlich geschafft! Wir sind stolz, auf unsere Leistung. Die Aussicht auf 3.657
m ist atemberaubend. Schneebedeckte Gletscher und Gipfel soweit das Auge
reicht. Leider müssen wir uns mit dem Gipfelfoto etwas beeilen, denn es stehen
noch andere an. Auch ist der Wind oben noch kälter und wir kühlen schnell aus.
Nach ein paar tollen Fotos seilen wir uns wieder an und machen uns an den
Abstieg. Es kommen uns noch etliche Gruppen entgegen. Wir sind also trotz
unserer Schneeschuhe nicht die letzten. Schnell schreiten wir bergab. Neidisch
schaue ich jedoch den Skifahrern nach, die in leichten Schwüngen den Berg
hinunter wedeln. Für mich steht fest, nächsten Winter lerne ich Skifahren, denn
Skitourengehen ist wesentlich besser als Schneeschuhwandern.
Nach zwei Stunden sind wir
abgestiegen. Unglücklicherweise ist das letzte Stück zur Hütte mit einem kurzen
Gegenanstieg verbunden. Natürlich überfällt mich genau da wieder der Hunger.
Aber ich reiße mich zusammen und krieche langsam zur Hütte hinauf. Ich bin
fertig. Da es gerade einmal ein Uhr mittags ist, beschließen wir etwas zu essen
und uns dann für einen Mittagsschlaf hinzulegen. Nach zwei Spiegeleiern mit Brot
und einem Stück Kuchen ist meine Welt wieder in Ordnung und kaum hingelegt,
schlafe ich sofort ein. Erst um 17 Uhr sind wir mehr oder weniger wieder wach
und wir begeben uns zum Abendessen. Weil Samstag ist, ist die Hütte voll. Es
sind etliche neue Gruppen da, denn die meisten Skifahrer sind nach der
Besteigung des Großvenedigers direkt ins Tal abgefahren. Klar, dauert ja vom
Gipfel bis zum Wanderparkplatz ja auch nur vier Stunden mit Skiern.
Dafür dürfen wir noch eine Nacht
bleiben und das gute Bergessen genießen. Wir besprechen beim Abendessen den
nächsten Tag. Kurz überlegen wir, ob wir erneut um sechs aufbrechen, um auf
festem Schnee absteigen zu können. Doch schon wieder ein karges Frühstück und
dann vielleicht ein ewiger Abstieg ist nicht gerade einladend. Deshalb
beschließen wir, dass wir unsere Rucksäcke packen, unsere Schlafstube räumen
und direkt nach dem Frühstück aufbrechen werden. Lange halten wir am Abend nicht
durch. Kurz vor zehn liegen wir in unseren Schlafsäcken. Richtig gut schläft
niemand von uns die Nacht. Wahrscheinlich plagen jedem von uns Alpträume vom
Abstieg.
Die Idee am regulären Frühstück
teilzunehmen war goldrichtig. Es gibt verschiedene Brotsorten, Müslis und sogar
Rührei. Ich stopfe mich richtig voll. Jedoch kommen wir nicht wie geplant 7.30
Uhr los. Zum einen verzögert die einzige Toilette für die volle Hütte unseren
Abstieg und zum anderen unsere mangelnde Motivation. Wir trinken noch einen
Kaffee, dann geht es los. Hilft ja nichts, man muss ja auch wieder runter. Die
Sonne lacht uns beim Aufbruch freudig entgegen. Gedanklich sehen wir uns alle
schon wieder aus dem Tiefschnee kämpfen. Doch der Abstieg verläuft ohne
Schwierigkeiten. Im Gegenteil, wir rennen fast den Berg hinunter. Der Schnee
hält und wir nutzen die Hänge, um schneller voranzukommen. Nach 3, 5 Stunden
erreichen wir das Tauernhaus. Da es fast zwölf ist, beschließen wir vor der
Rückfahrt nach München noch etwas zu essen. Schließlich liegt das Frühstück
schon vier Stunden zurück. Es gibt Kässpatzen und Kaiserschmarrn. Dieses Essen
haben wir uns wahrlich verdient. Denn Bergbekloppte brauchen Kraft für neue
verrückte Ideen.
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